Béla Bartók
(25. März 1881 – 26. September 1945)

 
   

Leben und Werk des ungarischen Komponisten, Pianisten und Ethnomusikologen Béla Bartók scheint heute wieder einmal von großer Aktualität zu sein, in einer Zeit, in der sich ein nie erhofftes Ausmaß europäischer Integration entfaltet; eine Integration, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem von zwei Weltkriegen gespaltenen Europa besonders fern erschienen haben mochte. Bartóks unerschöpfliches Interesse (oder mit seinem eigenen Wort „Vorliebe“) für die Bauernmusik der verschiedensten Nationen, „benachbarter Völker“ und Ethnien ist auch heute noch beispielhaft.

     In seiner Kindheit wurde Béla Bartók von Krankheiten geplagt. Nach dem frühen Tod seines Vaters musste seine Mutter Paula Voit allein für ihren siebenjährigen Sohn und die um vier Jahre jüngere Tochter Elza sorgen. Die Familie wanderte von Stadt zu Stadt, bis sie sich endlich in Pressburg (heute Bratislava, ungarisch Pozsony) niederlassen konnte, wo der Gymnasiast Béla systematischere Musikerziehung erhielt. Nach dem Abitur entschloss er sich, in die Fußstapfen des von Pressburg stammenden Ernst (Ernõ) von Dohnányi (1877–1960) zu treten und auf dessen Anraten die königliche Musikakademie von Budapest dem nahen Wien vorzuziehen. Zwischen 1899 und 1903 studierte er bei dem Liszt-Schüler István Thomán Klavier und bei Hans Koessler Komposition. Seine Karriere verlief nicht ohne Schwierigkeiten, trotz der vielseitigen Anerkennung seiner sowohl pianistisch als auch kompositorisch herausragenden Begabung. Nach der Komposition seiner ersten groß angelegten, patriotischen Werke (die später zurückgewiesene Kossuth Symphonie oder die Erste Suite, op. 3) entdeckte er die Bauernmusik, die ihm für die Fundierung einer neuen ungarischen Musiksprache origineller, „authentischer“ und gleichzeitig angemessener erschien als die bis dahin bekannte volkstümliche Kunstmusik.

     Um 1906 fing er das systematische Sammeln von Bauernmusik an und begann parallel, neuartig modernistische, auf besonderen Eigenschaften des gesammelten Volksmusikmaterials beruhende, oft experimentelle Kompositionen zu schreiben (Vierzehn Bagatellen, op. 6, 1. Streichquartett, op. 7). In der Entfaltung seiner individuellen (und individualistischen) Musiksprache spielte die Krise, die aus seiner unerwiderten Liebe zur Violinistin Stefi Geyer stammte, eine wesentliche Rolle. Das erst postum veröffentlichte frühe („erste“) Violinkonzert (1907/08) ist Dokument dieser Beziehung. 1909 heiratete er Márta Ziegler, die ihm seinen ersten Sohn, Béla d. J. (1910–1994), gebar. Der sich langsam zum Forscher und Wissenschaftler entwickelnde Komponist, seit 1907 auch Klavierprofessor an der Musikakademie, sammelte mehr als ein Jahrzehnt lang unermüdlich in entlegenen Dörfern, neben den ungarischsprachigen Territorien auch auf umfangreichen slowakischen und rumänischen Sprachgebieten des damaligen Ungarns, da sein Interesse für die Musik der Minderheiten sehr früh geweckt worden war. Sein Beitrag zur jungen vergleichenden Musikfolklore gilt als bahnbrechend. Er zeigte sich besonders fasziniert von den archaischen Eigenschaften der Bauernmusik, die er als ein Naturphänomen erachtete und für deren Erforschung er nur eine ganz streng wissenschaftliche Behandlung für akzeptabel hielt. Seine heimatlichen Sammlungen umfassen etwa 3500 rumänische, 3000 slowakische und 2700 ungarische sowie einige serbische und bulgarische Melodien, Volkslieder und instrumentale Volkstänze.

     Von 1906 an entwickelte sich zwischen ihm und seinem Komponisten-Freund Zoltán Kodály (1882–1967) eine enge wissenschaftliche Zusammenarbeit. Bartóks Begeisterung für musikalische Archaismen führte ihn in ferne Gebiete: 1913 begab er sich auf Forschungsreise nach Algerien (Biskra und Umgebung), später nahm er bereitwillig eine Einladung in die Türkei an, um unter den Nomaden Volksmusik zu sammeln. Letzteres blieb aber eher eine Ausnahme, denn schon 1918 gab er die Forschungsreisen auf. Grund war die Zersplitterung der Österreich-Ungarischen Monarchie nach dem ersten Weltkrieg und die mit dem Trianonvertrag einhergehende Wegnahme bedeutsamer Gebiete Ungarns, denn dies gerade an den folkloristisch reichsten Gebieten erschwerte jede volksmusikalische Feldforschungsarbeit ungemein. Stattdessen beschäftigte er sich mit der immer präziseren Transkription und Systematisierung seiner slowakischen und rumänischen Sammlungen. Die erste wissenschaftliche Monographie über die in den vorigen Jahren gesammelten ungarischen Bauernlieder zusammen mit einer umfangreichen Beispielsammlung veröffentlichte er 1924 (A magyar népdal, deutsch Das ungarische Volkslied, 1925, englisch Hungarian Folk Music, 1931). Zwischen 1934 und 1940 arbeitete er an der vorgesehenen Edition aller gesammelten 13.000 ungarischen Volkslieder an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, die ihn 1935 wegen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zum Mitglied wählte. Bartók nahm 1937/38 an der Vorbereitung der „Pátria“-Schallplattenaufnahmen teil.

     Infolge der erfolgreichen Uraufführungen seiner ersten beiden Bühnenwerke 1917 und 1918 (Das Ballett „Der Holzgeschnitzte Prinz“ entstand 1914/17, die Oper „Herzog Blaubarts Burg“ 1911, beide zu den Texten von Béla Balázs), wurde er als der bedeutendste Vertreter seiner Generation und moderner Musik in Ungarn überhaupt betrachtet. Seine neueren Werke erschienen von nun an regelmäßig dank der weltweit bekannten Wiener Universal Edition. Damit öffnete sich endlich für ihn als Komponisten und Pianisten die Möglichkeit einer internationalen Karriere. Während der zwanziger und dreißiger Jahre konzertierte er regelmäßig in fast allen wichtigen Musikstädten Europas. Ende der zwanziger Jahre konnte er sogar auf Tourneen in die USA und die Sowjetunion gehen.

     Sein Privatleben änderte sich wesentlich 1923, als er nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau die junge Klavierschülerin Ditta Pásztory heiratete, die seinen zweiten Sohn Péter gebar.

     Bartóks Klavierwerke, das emblematische Allegro barbaro (1911) oder die Suite Im Freien (1926) sowie seine pädagogischen Werke, z.B. Für Kinder (1908/11) und Mikrokosmos (1932/39) für Klavier oder die Vierundvierzig Duos für zwei Violinen (1931), nehmen einen herausragenden Platz sowohl in der Komposition als auch in der modern ausgerichteten Musikerziehung des 20. Jahrhunderts ein. Seine sechs Streichquartette, komponiert zwischen 1908 und 1939, sind sogar gattungsgeschichtlich sehr bedeutend. Mehrere seiner Orchesterwerke, ganz besonders aber seine Tanz-Suite (1923) und die für den Schweizer Dirigenten-Mäzen Paul Sacher geschriebene Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta (1936), erlangten sehr schnell nach ihren Uraufführungen Weltruhm. Trotz ihrer skandalösen Kölner Erstaufführung im Jahre 1926 zählt Bartóks radikalste Komposition, die Pantomime „Der Wunderbare Mandarin“ (1918/19, Instrumentierung 1924) zu den Epoche machenden Werken des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese Werke weisen Bartók einen wichtigen Platz neben den zwei führenden Erneuerern seiner Zeit, Schönberg und Strawinsky, zu. Dank seiner wissenschaftlichen Vorlesungen und Veröffentlichungen, seiner Aufsätze und Ausgaben von Volksliedern war er gleichzeitig eine weltweit anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Volksmusik Osteuropas.

     Nach der Annexion Österreichs versuchte Bartók seine Werke von der Londoner Firma Boosey & Hawkes herausgeben zu lassen. Nach den nötigen Vorbereitungen verließ er mit seiner Frau das kriegerische Europa und siedelte in die USA um. Neben Konzerte zu geben, konnte er auch an Universitäten zeitweilige Beschäftigungen finden, wie an der Columbia University, von der er eine Honorardoktorat erhielt und wo er über die Transkription und Systematisierung der berühmten Milman-Parry-Sammlung von südslawischer Volksmusik arbeitete, und an der Harvard University. Obwohl er an Leukämie erkrankte und sich sein Zustand rasch verschlimmerte, konnte er noch einige Meisterwerke wie das Concerto für Orchester (für Serge Kousewitzky in 1943), die Sonate für Solovioline für Yehudi Menuhin (1944) und das seiner Frau hinterlassene 3. Klavierkonzert komponieren. Obwohl er beabsichtigte, einen Großteil seiner volksmusikalischen Sammlungen zu publizieren, konnte dies erst nach seinem am 26. September 1945 in New York eingetretenen Tod geschehen.

     Obwohl ihn während und gleich nach dem Krieg das Schicksal seines Heimatlandes intensiv beschäftigte, erachtete er eine Rücksiedlung nach Ungarn verfrüht und blieb er in den USA, ohne jedoch seine ungarische Staatsangehörigkeit aufzugeben. Seine Gebeine wurden erst 1988 von seinen zwei Söhnen unter festlichen Umständen aus New York nach Budapest gebracht, wo sie im Friedhof von Farkasrét endgültig beigesetzt wurden.