(c) Copyright Bartók-Archiv, Institut für Musikwissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, 2004-2005 

 

Volksliedforschung und Nationalismus

 

 
 

Er hätte zu Beginn seiner Laufbahn nicht einmal im Traum daran gedacht, daß er einmal ein Folklorist sein würde. Bis zu seinem 24. Lebensjahr legte er den allgemein üblichen Weg eines Fachmusikers zurück, der zwei Ziele verfolgt: als erstes und wichtigstes das Studium des Klavierspieles und daneben das der Komposition. [...]

Zoltán Kodály, Bartók als Folklorist (1950),
Béla Bartók. Weg und Werk
, hrsg. von Bence Szabolcsi, Budapest, 1972, S. 83

 

 

 

 

 

 Meine Forschungen wurden vorwiegend in Osteuropa angestellt. Als Ungar begann ich meine Arbeit natürlich mit ungarischer Volksmusik, dehnte sie aber bald auf die benachbarten Gebiete – Slowakei, Ukraine, Rumänien – aus. Gelgentlich machte ich sogar Abstecher in entlegenere Gegenden (Nordafrika, Kleinasien), um einen weiteren ausblick zu gewinnen. [...]
            Seit dem allerersten Anfang war ich höchst erstaunt über den ungewöhnlichen Reichtum an Melodietypen, der in den bearbeiteten osteuropäischen Gebieten vorhanden war. Als ich meine Untersuchungen fortsetzte, wuchs dieses Erstaunen. In Anbetracht der verhältnismäßig geringen Ausdehnung jener Länder mit einer Gesamtbevölkerung von vierzig bis fünfzig Millionen Menschen ist diese Mannigfaltigkeit der Volksmusik wahrhaft bewundernswert. [...]
            Das Vergelichen der Volksmusik der einzelnen Völker ließ klar erkenne, daß da ein ständiges Geben und Nehmen von Melodien vor sich ging, ein ständiges Kreuzen und Wiederkreuzen, das seit Jahrhunderten anhält. [...]
Dieses Geben und Nehmen ist nicht so einfach, wie man glauben könnte. Wenn eine Volksmelodie die Sprachgrenze eines Volkes überschreitet, wird sie – früher oder später – gewissen Veränderungen unterworfen werden, die durch die andere Umgebung und insbesondere durch die Sprachunterschiede bedingt sind. [...]
            Wenn für die nähere oder fernere Zukunft ein Überleben der Volksmusik erhofft werden darf [...], dann ist offensichtlich die künstliche Errichtung von chinésischen mauern zur Trennung eines Volkes vom anderen für die Entwicklung der Volksmusik sehr ungünstig. Eine vollkommene Absperrung gegen fremde Einflüsse bedeutet Niedergang; gut assimilierte fremde Anregungen bieten Bereicherungsmöglichkeiten.
 

Bartók, Rassenreinheit in der Musik (1942), Béla Bartók, Musiksprachen.
Aufsätze und Vorträge
, Leipzig, 1972, S. 124ff

 

    

  

            Es würde uns zu weit führen, die Unterschiede zwischen Kodálys Werken und meinen genau zu beschreiben. Ich möchte nur einen wesentlichen Unterschied hervorheben, einen Verfahrensunterschied, der aber (mindestens teilweise) auch stilistische Unterschiede erläutern mag. Kodály studierte und verwendet als Quelle fast ausschließlich ungarische Bauernmusik, während ich mein Interesse und meine Vorliebe auch auf die Volksmusik der osteuropäischen Nachbarvölker ausgedehnt habe, und sogar gewagt habe, für Forschungszwecke auch noch arabische und türkische Gebiete aufzusuchen. Folglich sind in meinen Werken Eindrücke zu bemerken, die zwar von ganz verschiedenen Quellen stammen, aber – wie ich hoffe – doch eine Einheit bilden. Diese verschiedenen Quellen haben jedoch einen gemeinsamen Nenner, nämlich die Eigenschaften einer Bauernmusik im reinsten Sinne. Eine solche Eigenschaft ist der vollkommene Mangel an Sentimentalität oder Übertreibung vom Ausdruck der Gefühle. Gerade diese Eigenschaft verleiht der Bauernmusik eine gewisse Schlichtheit, Strenge, emotionale Offenheit und sogar Größe [...]

Bartók, Hungarian Music (1943), in: Béla Bartók Essays,
hrsg. von Benjamin Suchoff, London, 1976, S. 394f.

  

  

                                           

 

 

Es ist unleugbar, daß in den Anfängen der Ansporn zu der Volksliedforschung [...] im Erwachen eines gewissen nationalen Gefühls zu suchen ist. [...] Kleinere, namentlich aber politisch unterdrückte Nationen fanden in diesen Schätzen gewissermaßen einen Trost, eine Erstarkung, eine Festigung ihres Selbstbewußtseins [...] Bald kam aber eine kleine Enttäuschung. So wenig man sich auch um derartige Werte der Nachbarnationen kümmerte, war es doch unvermeidbar, daß man hie und da einige Stücke dieser Kulturschätze der Nachbarnationen ungewollt vor dei Augen bekam: und da begann das Unheil.
           Das verletzte Nationalgefühl, verletzt durch die Tatsache, daß ein bisher als ureigenstes Nationalgut betrachteter Schatz bei einer Nachbarnation ebenfalls vorhanden ist, mußte sich irgendwie wehren: es wehrte sich, indem es auf die Priorität Anspruch erhob. Da aber bei der Nachbarnation dieselben Gefühle und Weltanschauungen herrschten, so ließ man auch dort von der Überzeugung der Priorität nicht ab: [...]
            Da müssen schon recht viele dieser Völker etwas zu kurz kommen, wenn Forscher einen bedeutenden fremden Einfluß oder fremden Ursprung in ihrer Volksmusik festzustellen gezwungen sind. Auch müßte man bedenken, daß derartige „ungünstige“ Feststellungen weder Anlaß zu einem Minderwertigkeitsgefühl geben noch geeignet sind, politisch ausgebeutet zu werden. [...]
            Die ideologischen Spannungen unserer Zeit begünstigen leider das Umsichgreifen der krankhaftesten Einseitigkeiten anstatt des Vorherrschens einer objektiven Betrachtung. Wenn aber die oben geschilderte Voreingenommenheit sich in wissenschaftlichen Debatten immer mehr bemerkbar macht, dann ist es um die Wissenschaft geschehen.
 

Bartók, Volksliedforschung und Nationalismus (1937), in: Béla Bartók. Weg und Werk,
hrsg. von Bence Szabolcsi, Budapest, 1972, S. 201ff

 

    

  

 

 

  

  

  

   

  

 

  

    

1913 lernte er Arabisch, da er auch auf diesem Gebiet Studien zu betreiben beabsichtigte. 1936, als er die Einladung der türkischen Regierung zu einer Studienreise annahm, eignete er sich so viel von der türkischen Sprache an, daß er seine Aufnahmen allein notieren konnte. Bei einem derartigen Sprachgefühl und den ganz außergewöhnlichen Musikkenntnissen bedurfte es nur noch der Sammlerleidenschaft, um ihn zu einem bedeutenden Folkloristen werden zu lassen. Doch auch dies war ihm gegeben: Bartók sammelte von früher Kindheit an Käfer und Schmetterlinge (später brachte er aus Afrika wundervolle Exemplare mit). [...]

 

Zoltán Kodály, Bartók als Folklorist (1950),  Béla Bartók. Weg und Werk,   hrsg. von
Bence Szabolcsi, Budapest, 1972, S. 89

    

  

  

                                                     

  

  

   

Da vom Leben der Bauern die Rede ist, will ich noch berichten, was ich über das gegenseitige Verhältnis der Bauern verschiedenster Nationalitäten beobachten konnte. Jetzt, da sich diese Völker auf höheren Befehl gegenseitig morden und die dortige Welt so aussieht, als wollten die verschiedenen Nationalitäten einander in einem Löffel Wasser ersäufen [...], ist es vielleicht zeitgemäß, darauf hinzuweisen, daß es bei den Bauern keine Spur von grimmigem Haß gegen andere Völker gibt und nie geben wird. Sie leben friedlich nebeneinander, jeder spricht seine eigene Sprache, hält sich an seine eigenen Gebräuche und findet es ganz natürlich, daß sein anderssprachiger Nachbar das gleiche tut. Ein schlagender Beweis hierfür ist der Spiegel der Volksseele: die lyrischen Volksliedtexte. In diesen findet sich kaum je eine feindliche Gesinnung gegen fremde Nationalitäten. [...] Unter den Bauern herrscht Frieden – Gehässigkeit gegen Menschen anderer Rassen wird nur von höheren Kreisen verbreitet.

 

Bartók, Volksliedforschung in Osteuropa (1943), in: Béla Bartók, Musiksprachen. Aufsätze und Vorträge,
Leipzig, 1972, S. 129f.